arrow-left arrow-right nav-arrow Login close contrast download easy-language Facebook Instagram Telegram logo-spe-klein Mail Menue Minus Plus print Search Sound target-blank X YouTube
Inhaltsbereich

Aktuelles

Bundesparteitag
Olaf Scholz

01.11.2017 | SPD erneuern

Keine Ausflüchte! Neue Zukunftsfragen beantworten! Klare Grundsätze!

Olaf Scholz

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat es nun viermal hintereinander nicht geschafft, die Bundestagswahl für sich zu entscheiden und ein Mandat zur Bildung einer neuen Bundesregierung zu erhalten. In den letzten drei nationalen Abstimmungen konnte sie nur noch deutlich weniger als dreißig Prozent der Wählerinnen und Wähler überzeugen. Das war zuvor nur 1949 und 1953 der Fall. Bereits 1957 überschritt die SPD die Dreißig-Prozent-Marke, baute mit dem 1960 als Kanzlerkandidaten nominierten Willy Brandt ihre Ergebnisse bei den folgenden Wahlen aus und überschritt 1969 die Vierzig-Prozent-Marke, sodass Brandt der erste sozialdemokratische Kanzler im Nachkriegsdeutschland wurde. Brandt und Schmidt erreichten danach immer Werte oberhalb der vierzig Prozent. Auch als Oppositionspartei in der Kohl-Ära gelangen noch Wahlergebnisse mit deutlich mehr als dreißig Prozent der Stimmen. Schröder wurde zweimal zum Kanzler gewählt, als es der SPD nicht nur gelang, erneut die Vierzig-Prozent-Marke zu überspringen, sondern zweimal hintereinander stärkste Fraktion im Bundestag zu werden. Letzteres war bei allen Wahlen seit 1947 zuvor nur einmal gelungen, bei der Wiederwahl Willy Brandts im Jahre 1972.

Keine Ausflüchte: Schonungslose Betrachtung der Lage

Es ist also Zeit für eine schonungslose Betrachtung der Lage. Die Sozialdemokratische Partei hat strukturelle Probleme. Und da führt es nicht weiter, wenn man sich mit Debatten über Plakate oder darüber aufhält, ob der Kanzlerkandidat falsch beraten war oder etwas falsch gemacht hat. Die Vorschläge, die beispielsweise die Initiative SPD++ zu neuen Organisationsmodellen der Partei gemacht hat, verdienen sorgfältige Erörterung und sollten nicht ungehört verhallen. Aber die Lage kann nur dann in vollem Umfang richtig erfasst werden, wenn nicht Ausflüchte den Blick für die strukturellen Probleme verstellen.

Ausflucht 1: Noch nach jeder gescheiterten Bundestagswahl wurde die fehlende Mobilisierung der SPD zuneigender Wähler thematisiert. Tatsächlich spielen Verluste, die daher rühren, dass Wahlberechtigte, die bei einer vorherigen Wahl die SPD gewählt haben, das nicht mehr tun, eine Rolle. (Umgekehrt gilt das auch). Und es wird feierlich gelobt, beim nächsten Mal auf deren Mobilisierung großen Wert zu legen. Abgesehen davon, dass die Wahlenthaltung von Anhängern überwiegend nicht die Folge von anderweitiger Freizeitplanung am Wahlsonntag ist, sondern von Dissens zur Politik ihrer Partei. Diesmal wurde von der SPD geradezu vorbildlich mobilisiert. Sie hat in kurzer Zeit mehr als 25.000 neue Mitglieder gewonnen. Fehlende Mobilisierung erklärt dieses Wahlergebnis also nicht.

Ausflucht 2: Die Stärke der SPD in Ländern und Kommunen hat einen klaren Blick auf die tatsächliche Schwäche der SPD im Bundestag vernebelt. Angesichts der seit 2005 neu gewonnenen Verantwortung in den Staats- und Senatskanzleien von Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen war das lange auch nicht verwunderlich. Nachdem in NRW und Schleswig-Holstein seit diesem Sommer nun Unionspolitiker regieren, muss die Lage aber endlich genauer betrachtet werden.

Ausflucht 3: Die sozialpolitischen Beschlüsse der rot-grünen Koalition, insbesondere die 2003 angekündigte Agenda 2010 und die Rentenbeschlüsse zu Beginn der anschließenden großen Koalition, haben die SPD Kraft gekostet und sie hat darüber an Zustimmung verloren. Das bezweifelt wohl niemand. Man muss der SPD sozialpolitisch vertrauen. Und die Würde der Arbeit muss im Zentrum ihrer Politik stehen. Daran darf niemand (wieder) zweifeln. Es ist daher gut, dass die SPD seither in beiden großen Koalitionen zahlreiche Reformen vorangetrieben hat, die Deutschland sozialer und gerechter machen. Kurzarbeit hat in der Krise 2008/2009 Hunderttausende Arbeitsplätze gerettet, Branchenmindestlöhne und ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn wurden etabliert, Leiharbeit und der Missbrauch bei Werkverträgen eingeschränkt, erwerbsgeminderte Rentner bessergestellt, langjährigen Beschäftigten der Rentenzugang bereits mit 63 ermöglicht, Kitaplätze ausgebaut, BAföG und Wohngeld erhöht, Alleinerziehende unterstützt, Mieter besser geschützt. Die Aufzählung der von der SPD durchgesetzten Gesetze für ein gerechtes Deutschland ließe sich mühelos verlängern. Das Wahlprogramm der SPD bei dieser Bundestagswahl hat mit zahlreichen Konzepten wie der Wiedereinführung der Parität bei den Beiträgen zur Krankenversicherung oder der Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen oder zur Stabilisierung des Rentenniveaus daran angeknüpft. Und der Wahlkampf stand ganz im Zeichen der sozialen Gerechtigkeit. Es ist daher nicht plausibel möglich, das Wahlergebnis damit zu begründen, dass die SPD sich nicht genügend für soziale Gerechtigkeit einsetze.

Ausflucht 4: Nach den beiden vorherigen Bundestagswahlen wurde die fehlende Machtoption der SPD als Hemmnis beschrieben, ausreichend Wählerinnen und Wählern zu gewinnen. Nur diesmal gilt auch das nicht. Zum einen wurde Anfang des Jahres die so gerne erörterte Frage, wie die SPD zu einem Regierungsbildungsauftrag kommt, angesichts steigender Umfrageergebnisse für jedermann beantwortet: Durch das plebiszitäre Mandat eines starken Wahlergebnisses; am besten, indem die SPD als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgeht. Zum anderen ist die SPD mit der Frage, wie sie eine Regierung bilden kann, geschickter umgegangen. Und es wurden auch stets verschiedene Optionen, solange sie rechnerisch möglich waren, in der Öffentlichkeit erörtert. Die Partei hat sich klug fast vollständig aus den Debatten herausgehalten.

Ausflucht 5: Gerne wird argumentiert, dass die SPD nicht zu alter Stärke zurückkehren könne angesichts der wachsenden Konkurrenz durch zusätzliche Parteien. Im linken Milieu seien die Grünen und dann die Partei Die Linke hinzugekommen. Ganz rechts trete jetzt die AfD auf. Tatsächlich sitzen jetzt sechs Fraktionen im neuen Bundestag. Dieser Einwand überzeugt aber nicht. Ganz abgesehen davon, dass im ersten und zweiten Deutschen Bundestag auch viele Parteien saßen. Wenn die Wahlergebnisse so ausgefallen wären, wie das Frühjahr hoffen lassen durfte, säßen auch sechs Fraktionen im Bundestag. Aber ein Sozialdemokrat wäre Kanzler.

Die Herausforderungen, vor denen die SPD steht, sind grundsätzlicher:

Fortschritt und Gerechtigkeit in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung

Es ist kein Zufall, dass die sozialdemokratischen Parteien in Europa, und generell in allen klassischen Industriestaaten, fast zur gleichen Zeit nicht mehr an frühere Wahlerfolge anknüpfen können. Die sozialdemokratischen Parteien in diesen wirtschaftlich erfolgreichen Ländern stehen vor der Herausforderung, dass die – im Vergleich zu den Jahrzehnten davor – geringere Wachstumsdynamik seit den achtziger Jahren, die Globalisierung und die technologischen Veränderungen, namentlich die Digitalisierung, vielen Bürgerinnen und Bürgern (berechtigte) Sorgen bereiten. Überall weisen die Statistiken sinkende Löhne in den unteren Einkommensgruppen und nicht selten auch stagnierende Einkommen in der Mittelschicht aus. Und das sogar, wenn die Volkswirtschaft prosperiert oder wie in Deutschland die Beschäftigungsstatistik Rekordzahlen vermeldet. Die Schere zwischen denen, die am oberen Ende der Einkommensskala stehen und den unteren Einkommensgruppen geht wieder auseinander, nachdem es bis zum Ende der siebziger Jahre eine lange Zeit umgekehrt war. Langsam aber unübersehbar nimmt die Hoffnung, dass die Zukunft besser wird, bei Teilen der Bevölkerung ab. Übrigens während gleichzeitig in der Welt, vor allem in Asien, der Wohlstand zunimmt und eine Mittelschicht wächst. Und nicht vergessen werden sollte, dass die klassischen Industriestaaten unverändert über den größten Wohlstand verfügen.

In dieser veränderten Welt müssen die sozialdemokratischen Parteien plausible Antworten auf die Frage geben können, wie eine gute Zukunft möglich ist, die sich nicht auf die natürlichen Profiteure der Globalisierung und Digitalisierung beschränkt. Die sozialdemokratischen Konzepte müssen deshalb weiterentwickelt werden. Sie müssen gewährleisten, dass der Fortschritt, der mit der Globalisierung und Digitalisierung verbunden ist, auch für die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger als Fortschritt spürbar wird.

Deutschland war immer erfolgreich, wenn es auf den technischen Fortschritt gesetzt hat. Wirtschaftlicher Erfolg wird auch in Zukunft nur so möglich sein. Ein starker und zuverlässiger Sozialstaat, ist allerdings die unverzichtbare Bedingung dafür, dass sich niemand deswegen sorgen muss. Gerade wegen der neuen wirtschaftlichen Verhältnisse ist es unabdingbar, die unteren Lohngruppen durch einen substantiellen Mindestlohn abzusichern, der hoch genug ist, um im Alter nicht auf öffentliche Unterstützung angewiesen zu sein. Die Sicherheit, die Tarifverträge und Gewerkschaften in der old economy geschaffen haben, ist auch in der digitalen Ökonomie nötig. Sichere Arbeitsverhältnisse sind auch künftig ein wichtiges politisches Ziel. Männer und Frauen müssen auch endlich für gleiche Arbeit gleich bezahlt werden. Krippen, Kitas, Ganztagsschulen, qualitativ hochwertige Bildungsangebote an Schulen, Berufsschulen und Universitäten sind weitere wichtige Bedingungen für ein gutes Leben in sich rasant wandelnden Zeiten. Man muss in einer sich immer schneller verändernden Welt das Recht und die Möglichkeit haben, auch im fortgeschrittenen Alter einen neuen beruflichen Anfang durch eine Berufsausbildung oder eine Hochschulausbildung zu suchen. Und das Leben muss auch für Normalverdiener bezahlbar bleiben, deshalb braucht Deutschland gebührenfreie Betreuung und Bildung und bezahlbare Wohnungen. Und ein gerechtes Steuersystem.

Wirtschaftliches Wachstum wird auch in Zukunft eine zentrale Voraussetzung sein, um eine fortschrittliche Agenda zu verfolgen. Die ökonomische Kompetenz der SPD rührt daher, dass sie weiß, dass alleine aus technischem Fortschritt oder der Digitalisierung kein Wachstum entsteht. Das gelingt nur, wenn sie einher gehen mit einer guten Einkommensentwicklung, auch der unteren Lohngruppen. Das war schon beim Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit so. Das Versprechen des Wohlstands für alle gehörte dazu.

In der politischen Debatte stellen die einen ausschließlich die offensichtliche ökonomische Prosperität des Landes (und nicht weniger Bürgerinnen und Bürger) heraus und die anderen nur die ebenso offensichtlich zunehmenden sozialen und regionalen Disparitäten. Darin liegt eine große Gefahr. Konsequenz einer solchen jeweils einseitigen Beschreibung der Realität, ist wachsendes Unverständnis und politische Desintegration. Man kann das am Beispiel der USA genau beobachten. Kein Wunder, dass linke und rechte populistische Parteien heute überall Gehör und Anhänger finden, obwohl sie keinerlei praktikable Lösungen vorschlagen. Und kein Wunder, dass Ressentiments und nationalistische Rezepte als Antwort auf Globalisierung und Digitalisierung nun erneut in der politischen Arena auftauchen. Auch im neuen Bundestag werden sie lautstark vorgetragen werden. Letztlich hilft gegen (rechts)populistische Parteien nur, dass die Volksparteien die richtigen Antworten auf die Fragen unserer Zeit haben – und verstanden werden. Sie müssen die Problemlösungsfähigkeit der Demokratie unter Beweis stellen.

Es geht also um Fortschritt und Gerechtigkeit in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung. Der SPD muss es gelingen Fortschritt und Gerechtigkeit in pragmatischer Politik und einer unmittelbar daran anschließenden Erzählung zu verbinden. Dabei geht es nicht um eine bloße Addition, sondern das jeweils eine muss sich aus dem jeweils anderen ergeben. Sozialdemokratische Politik muss dafür einstehen, dass Weltoffenheit und Offenheit für den technischen Fortschritt einerseits, sozialer Friede und gerechte Lebensverhältnisse andererseits vereinbar sind. Sie muss eine Politik formulieren, die zeigt, wie Wachstum möglich ist, an dem alle Bürgerinnen und Bürger teilhaben.

Und sie muss angesichts der begrenzten Handlungsspielräume der Nationalstaaten in Europa für die Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einer Gemeinschaft stehen, die Fortschritt und Gerechtigkeit heutzutage sichern kann und politisch auch sichern will. Im Unterschied zu den populistischen Parteien muss sie eine proeuropäische Partei sein. Nur die Europäische Union verschafft der Demokratie in der veränderten Welt die Möglichkeit, „to take back control“, wie die Brexiteers verlangten. Sozialdemokratische Politik unterscheidet sich von konservativer oder liberaler, weil sie das im Interesse der Bürgerinnen und Bürger erreichen will.

Anerkennung

Eine Einsicht wird für die Zukunft der sozialen Demokratie zentral sein. Die SPD hat immer wieder dafür gestritten, dass nicht Herkunft und Abstammung darüber entscheiden, welche Möglichkeiten sich im Leben der Bürgerinnen und Bürger öffnen. Sie hat sich deshalb stets für gute und allen zugängliche Bildung eingesetzt. Aber die höhere Durchlässigkeit, die unser Bildungssystem bietet, bedeutet keineswegs, dass sich die sozialen Fragen damit erledigt hätten. Nicht nur, weil trotz der größeren Aufstiegsmöglichkeiten heute immer noch eine privilegierte Herkunft Garant für eine sichere Zukunft ist. Sondern auch, weil die höhere Durchlässigkeit, die das Bildungswesen ermöglicht, keineswegs bedeutet, dass alle gleiche Chancen haben. Die großen Fortschritte im Bildungswesen dürfen nicht zu dem Fehlschluss führen, dass eine schwierige soziale Lage selbstverschuldet sein muss. Noch wichtiger ist aber die Einsicht, dass ein gelungenes Leben auch ohne Hochschulabschluss möglich ist und möglich sein muss. Es war wichtig, die von Konservativen aufgestellten Bildungsschranken zu öffnen. Und unverändert gibt es da etwas zu tun. Aber wer Metallbauer, Lagerarbeiter oder Krankenpflegerin werden und das auch bleiben will, hat im Leben nichts falsch gemacht. Die öffentliche Rede der meist akademisch qualifizierten Mittelschichtsangehörigen in Politik und Medien, klingt aber manchmal so. Und darin liegt eine Kränkung fleißiger Bürgerinnen und Bürger, die sie auch empfinden. Denn eine Friseurin, eine Postbotin oder ein Altenpfleger findet Bestätigung im Beruf, verrichtet die Arbeit gewissenhaft und hat ein hohes Berufsethos.

Als es noch mehr als heute um Durchlässigkeit im Bildungswesen ging, waren sich alle einig. Dass „unsereins“ viele Bildungschancen verschlossen bleiben, hat auch die empört, die nie den Wunsch verspürt haben, zu studieren. Aber die Zeiten sind heute andere. Die Durchlässigkeit unserer Gesellschaft, dass der Aufstieg möglich ist, bleibt eine wichtige Frage. Aber das heißt nicht, dass jeder und jede die eröffneten Wege auch beschreiten wollen muss. Und der Verweis auf die Durchlässigkeit rechtfertigt nicht, dass sich die Politik etwa nicht dafür engagiert, die wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven ungelernter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verbessern. Tut sie das nicht, klingt die einst fortschrittliche Forderung nach dem Aufstieg durch Bildung in den Ohren weiter Teile der Bevölkerung nach einem elitären Abgrenzungsmerkmal. Das kann zu gesellschaftlicher Spaltung und auch zur Abwendung von demokratischer Politik führen.

Die Einsicht muss also lauten: Anerkennung steht auch denen zu, die keine hoch bezahlten Jobs verrichten. Ihre Anliegen müssen die Anliegen der ganzen Gesellschaft sein – und insbesondere die Anliegen der SPD. Die SPD darf dabei nicht bloß als Anwältin dieser Bürgerinnen und und Bürger auftreten. Es ist die eigene Perspektive vieler ihrer Mitglieder. Das muss immer deutlich sein. Als Partei des Volkes muss die SPD eine gesellschaftspolitische Zukunftsvorstellung entwickeln und vertreten, die die Anliegen aufstiegsorientierter Milieus und nicht aufstiegsorientierter Milieus in einem gemeinsamen modernen Projekt zusammenführt.

Volkspartei und Regierungsverantwortung

Die SPD ist die älteste demokratische Partei Deutschlands und eine der ältesten Parteien der Welt. Sie ist immer eingetreten für Freiheit, Demokratie und Recht. Und für den sozialen Zusammenhalt. Sie war immer eine von vielen Mitgliedern getragene Partei. Den mühseligen Aufstieg zur führenden Partei in der Bundesrepublik während der sechziger Jahre hatte sie durch die Wandlung zur Volkspartei, die Mitglieder und Wähler in allen Schichten und Milieus der Bevölkerung sucht, vorbereitet. Die progressive Volkspartei SPD stellte sich so auf, dass schließlich von 1969 an dreizehn Jahre lang große Teile der Wählerschaft ihr das Land und die Führung der Regierung anvertrauen mochten. Auch heute gilt: Die SPD muss progressive Volkspartei sein wollen. Und die SPD muss die Regierung führen wollen. Beide Ziele bedingen einander.

Gibt die SPD den Anspruch Volkspartei zu sein auf, wird sie nur (noch) die erreichen, die mit ihr fast vollständig übereinstimmen. Politik lässt sich aber nicht auf eine Geschmacksfrage reduzieren. In einem Parlament mit nun sechs Fraktionen ist die Gefahr groß, dass die Parteien angeschaut werden, wie das Warenangebot in einem Supermarkt. Und da wechseln eben die Vorlieben schnell. Vor allem wenn die Parteien sich selber bloß wie das aktuell günstigste Angebot anpreisen. Die SPD kann daher, wenn sie nicht mehr Volkspartei sein wollte, zerrieben werden zwischen den konservativ beharrenden Parteien und denen, die unrealistische aber stets weiterreichende Forderungen aufstellen. Und nur über das Integrationsprojekt Volkspartei, kann die mit ihr verbundene – in der politischen Geschichte seltene – Kombination von lebensweltlicher Liberalität und Zusammenhalt gelingen. Die SPD muss für mutige Reformen stehen, die vernünftig sind und an deren Umsetzung man glauben kann. Sie wird aber zwangsläufig an Zustimmung verlieren, wenn sie sich auf den Wettbewerb der schrillsten Töne einlässt.

Stellt die SPD sich als progressive Volkspartei so auf, dass große Teile der Wählerschaft ihr das Land und die Führung der Regierung anvertrauen mögen, wird sie bei Bundestagswahlen auf neue Erfolge hoffen können. Und deshalb muss die SPD in Fragen der Außenpolitik, der Europapolitik, der äußeren und der inneren Sicherheit, der Wirtschaftspolitik, des Umgangs mit öffentlichen Haushalten aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger im höchsten Maße kompetent sein. Kompetenz ist auch wegen der Migration gefragt, die die europäischen Gesellschaften vor neue Aufgaben stellt. Je unwirtlicher und unsicherer die Welt wird, je mehr wird diese Kompetenzerwartung an Bedeutung gewinnen. Da handelt es sich keineswegs um eine nebensächliche Frage. Wollen viele Bürgerinnen und Bürger, dass die SPD die Regierung führt, kann sie schnell zehn Prozentpunkte zulegen. Dann kann sie auch aus Bundestagswahlen als stärkste Partei hervorgehen und daraus einen Auftrag zur Bildung einer Regierung ableiten. Die plötzlich ansteigenden Umfragewerte zu Beginn des Jahres 2017 haben eindrucksvoll diesen Zusammenhang demonstriert. Es war eine hoffnungsvolle Projektion der Wählerinnen und Wähler, die erneut möglich ist, wenn sie es plausibel finden, dass die SPD diese Erwartungen erfüllt.

Sollen sich derartige Hoffnungen und Erwartungen an die SPD künftig auch nachhaltig in Zustimmung übersetzen, dann bedarf das einer klaren fortschrittlichen Haltung der Partei. Die SPD darf die Modernität ihrer Politik nicht nur behaupten, sondern muss sie durch Auftreten und Handeln auch ganz praktisch verkörpern.

Klare Grundsätze

Die SPD regierte vor allem nach den Wahlerfolgen 1998 und 2002 in mancher Hinsicht anders, als die Wählerinnen und Wähler nach dem Eindruck aus dem Wahlkampf erwarteten. Die große Koalition 2005 startete mit einer drastischen Mehrwertsteuererhöhung, die im Wahlkampf zuvor noch heftig bekämpft worden war. Das hat strukturell Vertrauen gekostet. Und das ist hochgefährlich, denn Vertrauen ist die wichtigste Währung der Politik. In dieser Hinsicht hat sich die SPD am Ende der gerade ablaufenden großen Koalitionsregierung nichts vorzuwerfen. Sie hat, obwohl nur der kleinere Partner, eine beachtliche sozialpolitische Erfolgsbilanz. Auch im Hinblick auf Fragen der Liberalität besteht die SPD diesen Test, wenn man auf die fast vollständige Abschaffung der Optionspflicht für in Deutschland geborene junge Leute schaut, die nicht mehr zwischen ihrer deutschen Staatsangehörigkeit und der ihrer Eltern wählen müssen. Oder wenn man die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare betrachtet. Auf dem Vertrauen, dass diese unter Beweis gestellte Verlässlichkeit ermöglicht, kann aufgebaut werden. Als Lehre für die Zukunft taugt diese Rückbetrachtung aber auch. Die SPD darf nicht anders regieren, als sie zuvor in einer Wahlkampagne angekündigt hat. Schon bei der Erstellung der Wahlprogramme muss das bedacht werden. Man darf nur versprechen, was man halten kann und muss halten, was man versprochen hat.

Die SPD wird seit längerem als zu taktisch wahrgenommen. Diese Wahrnehmung darf nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Denn wenn Reformvorstellungen als nicht ernstgemeint angesehen werden oder als Vorschläge, die präsentiert werden, um Wählerinnen und Wähler anzusprechen und nicht, weil sie der SPD wichtig sind, dann sind sie auch nur die Hälfte wert. Überwinden kann man diese Wahrnehmung nur mit Konsistenz und Stringenz in der eigenen Haltung und der eigenen Politik. Und wenn die SPD verstanden wird anhand ihrer Grundsätze.

Und die SPD muss konkret sein, auch wenn es um soziale Gerechtigkeit geht. Nur anhand konkreter Vorschläge bleibt der Begriff nicht abstrakt. Nur konkrete Vorschläge können auch politisch wirkmächtig werden. Die Programmatik der SPD bietet dafür genug Handhabe: eine deutliche Steigerung des Mindestlohns, die Abschaffung der Möglichkeit, Arbeitsverträge ohne Sachgründe zu befristen, das Recht nach vorübergehender Teilzeitbeschäftigung wieder Vollzeit zu arbeiten, die Stabilisierung des Rentenniveaus, paritätische Beträge in der Krankenversicherung, die massive Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus, Gebührenfreiheit in Kitas, Ganztagsschulen, ein Rechtsanspruch auf eine neue Berufsausbildung im fortgeschrittenen Alter, Breitbandverkabelung als Grundversorgung zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland, die Entlastung der Kommunen von den Kosten der Unterkunft Arbeitsloser, die ja regional vor allem dort anfallen, wo die wirtschaftliche Lage nicht gut ist, Entlastungen bei den Beträgen für Geringverdiener und steuerliche Entlastungen für untere und mittlere Einkommen. Die SPD hat diese und noch mehr konkrete Vorschläge. Sie muss sie auch benennen.

Es geht um viel. Überall in Europa haben die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien an Zustimmung eingebüßt. Manche sind fast oder gar vollständig verschwunden. In Deutschland, vielleicht das Kernland der sozialdemokratischen Idee, ist es unsere Mission, die Zukunft der sozialen Demokratie neu zu beschreiben. Gerade die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat es vermocht, die Vorstellungen von einer solidarischen Gesellschaft und von lebensweltlicher Liberalität in einem politischen Projekt zu vereinen. In manchen Ländern Europas kann man nur noch wählen zwischen einer sozialstaatlichen Partei mit lebensweltlich antimodernen Vorstellungen und Ressentiments auf der einen Seite und einer streng wirtschaftsliberalen Partei mit modernen Vorstellungen zum Zusammenleben auf der anderen. Das ist ein Drama für die Bürgerinnen und Bürger dieser Länder.

Die Erneuerung der SPD kann nur entlang klarer Grundsätze gelingen. Sie bedient niemals Ressentiments. Sie ist modern, besonders weil sie für die Gleichstellung von Männern und Frauen steht. Sie ist modern, weil sie auch die Perspektive einer lebenswerten Umwelt verfolgt. Die SPD muss als weltoffene, europafreundliche, fortschrittliche, liberale und soziale Partei beweisen, dass mit einer mutigen und pragmatischen Politik eine bessere Zukunft auch in unseren sich schnell wandelnden Zeiten für alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes möglich ist.